09.03.2016

Scheinselbstständigkeit

Scheinselbstständigkeit ist in Deutschland weit verbreitet: Laut einer Studie der Prüfung- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young, für die 400 Unternehmen und Rund 2500 Erwerbstätige befragt wurden, arbeiten inzwischen etwa 28 % der Selbständigen scheinselbständig (Quelle: NZA Heft 3/2016 XII). Mit anderen Worten: Mehr als jeder 4. Selbstständige ist rechtlich als Arbeit-nehmer oder zumindest als arbeitnehmerähnlich zu behandeln. Für die Unternehmen bedeute dies:

Mehr als 1.200.000 „Leichen“ im Keller.

Wüsste man es nicht besser, würde man denken, „Compliance“ müsste erst noch erfunden wer-den. Die am stärksten betroffenen Branchen sind die Bau- und Immobilienbranche (60 %), IT/ Telekommunikation (43 %), Banken und Finanzdienstleistungen sowie der Energiesektor (je 22 %). Selbst die öffentliche Hand beschäftigt laut der Studie rund 17 % Scheinselbständige; an die Sanierung des Reichstages darf erinnert werden. Weniger als erwartet vertreten ist der Bereich Transport und Logistik (6 %); dies mag an der hohen Kontrolldichte liegen.

Es steht zu erwarten, dass diese Zahlen bei zukünftigen Befragungen noch höher ausfallen werden; denn durch die Beauftragung externer „Dienstleister“ wird versucht, Kosten zu senken und die Flexibilität zu steigern. Auch wenn es über Jahre hinweg gut gegangen sein mag, birgt die Scheinselbstständigkeit gravierende Risiken in nahezu allen Rechtsgebieten:

Die drohenden Nachforderungen von Beiträgen.

Die angebliche Selbständigkeit eines Dienstleisters – seine Scheinselbständigkeit – wird zumeist im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28 p SGB IV bemerkt. Regelmäßig führt diese zumindest zur Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen. Beitragsschuldner ist allein der Arbeitgeber (§ 28 e Abs. 1 S. 1 SGB IV). IdR. wird das Unternehmen auch mit den Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung belastet, da der Rückgriff auf den Arbeitnehmer nur durch Abzug vom Lohn erlaubt und das Beitragsabzugsverfahren für zurückliegende Zeiten auf drei Monate beschränkt ist (§ 28 g SGB IV).

Einfaches Beispiel: Ein IT-Onsite-Techniker verdient brutto € 3.500,00/ Monat. Das entspricht einem Jahreseinkommen von € 42.000,00. Davon zahlt ein Arbeitnehmer jährlich € 8.400,00 Arbeitnehmer-anteile zur Sozialversicherung. Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile summieren sich jährlich auf € 16.800,00. Wird der scheinselbständige IT-Techniker 5 Jahre beschäftigt, errechnet sich allein in der Sozialversicherung ein Risiko von mindestens € 84.000,00. Dies trägt das Unternehmen zu knapp 100%. Wurden die Aufzeichnungspflichten verletzt, kann ein Summenbescheid (§ 28 f Abs. 2 S. 1 SGB IV und daran anschließend auch eine Nachforderung aufgrund Schätzung (§ 28 f Abs. 2 S. 3 SGB IV) ergehen.

Mögliche Regressansprüche.

Man mag die vorstehend dargestellten Beitragsrisiken noch für kalkulierbar halten. Das Risiko in der gesetzlichen Unfallversicherung ist es ganz sicher nicht: Ein möglicher unfallversicherungsrechtlicher Regress stellt ein schlicht unberechenbares Risiko dar (vgl. § 110 Abs. 1 a SGB VII). Verunfallt ein Scheinselbständiger, hat der in Wirklichkeit verantwortliche Arbeitgeber dem Unfallversicherungsträger sämtliche Aufwendungen zu ersetzen, d.h. 100% der Aufwendungen für Heilbehandlung, Rehabilitation, Verletztengeld, Verletztenrente, berufliche Wiedereingliederung sowie Witwen- und Waisenrent

Drohende Strafbarkeit des Arbeitgebers und Haftung des Steuerberaters:

§ 266a StGB beschränkt die Strafbarkeit für nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge auf die Person des Arbeitgebers. Der Steuerberater, der auch mit der Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge beauftragt war und die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Mitarbeitern der Mandantschaft unzutreffend vorgenommen hat, haftet jedenfalls zivilrechtlich nach § 280 BGB und muss mit Schadensersatzansprüchen rechnen – ganz abgesehen von dem Reputationsverlust, den er durch die womöglich in Zukunft besonders gründliche Prüfung seiner Mandate hinzunehmen hat.

 

Unsere Leistungen zur Vermeidung / bei Verdacht von Scheinselbständigkeit:

Wir beraten und vertreten Scheinselbständige und Unternehmen. Für Unternehmen gestalten wir Verträge rechtssicher und begleiten bei deren Durchführung: Die besten Verträge nützen nichts, wenn sie faktisch anders gelebt werden, als es geschrieben steht. Deswegen bieten wir eine Art Vertragsdurchführungscoaching und auch ein Audit an. Denn nur wenn die gedruckte Version des Vertrages mit der gelebten kongruent bleibt, können die Risiken der Scheinselbständigkeit vermieden werden. Darüber hinaus werden wir auch und gerade in Fällen, die wir nicht begleitet haben, zu Rate gezogen, wenn es etwa darum geht, die Selbständigkeit durch die Arbeitsgerichte festschreiben zu lassen. So haben wir z.B. für eine überörtlich tätige Anwaltssozietät vor dem LAG Niedersachsen (15 Sa 346/ 14) oder in Hamburg vor dem hiesigen Arbeitsgericht (15 Ca 337/13) rechtskräftig feststellen lassen, dass der klagende Anwalt eben doch ein echter freier Mitarbeiter und kein Scheinselbständiger gewesen ist.

Für Scheinselbständige lassen wir durch die Arbeitsgerichte feststellen, dass die Arbeitsleistung eine abhängige, scheinselbständige gewesen ist. Gegenwärtig prozessieren wir beispielsweise vor dem Arbeitsgericht Hamburg (17 Ca 209/15) gegen einen IT-Dienstleister, der angeblich Selbständige als Onsite-Techniker zu einem Stundensatz von € 19,00 netto beschäftigt. Die Problematik zeigt sich in diesem Fall nicht nur daran, dass der Lohn kaum auskömmlich ist. Der betroffene Scheinselbständige hat leicht fahrlässig mit dem Wagen seines Auftraggebers einen Unfall verursacht, bei dem ein Schaden an dem Fahrzeug in Höhe von Euro 5.000 entstanden ist. Als Arbeitnehmer hätte er für diesen Schaden nicht aufzukommen (die Haftung des Arbeitnehmers ist nach den Grundsätzen der gefahrgeneigten Arbeit deutlich eingeschränkt). Hier hat der Auftraggeber den behaupteten Schaden vom angeblichen Werklohn abgezogen, so dass der Kläger für den Zeitraum von rund 7 Wochen kein Entgelt erhalten hat. Als unser Mandant sich dagegen zur Wehr gesetzt hat, hat das Unternehmen den Scheinwerkvertrag gekündigt. Wir sind bestrebt, feststellen zu lassen, dass rückwirkend seit Januar 2014 ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Selbst wenn die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wirksam sein sollte, wird unser Auftraggeber jedenfalls Arbeitslosengeld I beziehen können. Erwartungsgemäß ist die Kündigung unwirksam und das Unternehmen kann sich darauf einstellen, bald 12 Monate Gehalt nachzuzahlen.